Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Holocaust-Gedenkstätten und Jahreshauptversammlung von IC MEMO

Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Holocaust-Gedenkstätten und Jahreshauptversammlung von IC MEMO

Organisatoren
IC MEMO
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
26.10.2011 - 28.10.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Ingrid Schupetta, NS-Dokumentationssstelle der Stadt Krefeld

Vom 26. bis zum 28. Oktober fanden im Pariser Mémorial de la Shoah eine internationale Konferenz und die Jahreshauptversammlung von IC MEMO, der weltweiten Organisation der Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer von Staatsverbrechen, statt. Das Generalthema der Konferenz war "Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Holocaust-Gedenkstätten". In dem kompakten Programm folgten Podiumsdiskussionen auf wissenschaftliche Vorträge. Das Mémorial de la Shoah wurde ebenso wie der gegenwärtige Zustand der Erinnerungslandschaft um die Cité de la Muette in Drancy, ehemaliger Standort des zentralen Sammellagers vor der Deportation in die Arbeits- und Vernichtungslager, erkundet.

Zu Beginn der Konferenz1 gab es nicht nur Grußworte des Vorsitzenden VOJTECH BLODIG (Theresienstadt) und des ICOM-Generalsekretärs JULIEN ANFRUNS (PARIS), sondern auch Ausführungen von HUBERT CAIN (Paris, Beirat des Mémorials) über die Gründung und Entwicklung der Gedenkstätte in Paris. Hubert Cain unterstrich vor allem die Rolle der Überlebenden bei der Errichtung und Entwicklung des Gedenkortes.

Einen ersten Diskussionsimpuls gab der Historiker und Publizist GEORGES BENSOUSSAN (Paris) mit seinem Thema "Der Holocaust zwischen Geschichte und Gedächtnis: Herausforderungen und Gefahren für die Bildungsarbeit". Bensoussan konstatierte, dass der Holocaust inzwischen fester Bestandteil des historischen Grundwissens sei. Allerdings laufe die reine Informationsvermittlung an einem wesentlichen Punkt vorbei: dem Widerspruch zwischen "modernen" Elementen (technischer Fortschritt, Arbeitsteilung) und "archaischen" Impulsen (Gewalt, Bösartigkeit, Fremdenfurcht). Auf der anderen Seite drohe eine Banalisierung von Auschwitz als einer allgemeinen Formel für "das Böse" und eine Ausweitung des Opferbegriffes, die der historischen Besonderheit des Judenmordes auch nicht gerecht wird.

Danach nahmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Gelegenheit war, das Mémorial im Rahmen einer Führung zu besichtigen: die Namenswände, die Gedenkhalle, die ständige Ausstellung und das Denkmal der ermordeten Kinder.

Der Nachmittag gehörte zwei Podiumsdiskussionen. In der ersten "Menschenrechts- und Toleranzerziehung in Holocaust-Gedenkstätten: aktuelle Diskussionen" ging es um die Frage, ob es in den Holocaust-Gedenkstätten eine Menschenrechtserziehung geben sollte. Die allgemeine Tendenz des Gesprächs war, dass eine Holocaust-Erziehung zwar nur auf der Basis der allgemeinen Kenntnis und Akzeptanz von Menschen- und Bürgerrechten erfolgen kann, dass die Vermischung verschiedener Themen nur zu allgemeiner Verwirrung führt. Selbst dort, wo im Rahmen mehrtätiger Seminare allgemeine Menschenrechte thematisiert werden (z.B. Anne-Frank-Haus) geschieht dies in separaten Themenblocks.

Die zweite Gesprächsrunde problematisierte die Einbeziehung der anderen Völkermorde des 20. Jahrhunderts in die Holocaust-Erinnerung. Der wissenschaftliche Vergleich – eindrucksvoll gezogen durch den Mediziner und Historiker YVES TERNON (Paris) – zeigte gemeinsame Bedingungen (tödliche Ideologie, biologischer Rassismus, Materialismus, Kultur des Ausschlusses, der Entwertung und Zurückweisung, Schuldzuweisung, Krieg als Katalysator von Gewalt) und Wirkungen (Ausweitung der Opfergruppen, Bedrohung der Überlebenden, Leugnung). Aus der Kategorisierung kann sich durchaus eine Nutzanwendung ergeben. Das US-Holocaust Memorial Museum führt Fortbildungen für Militärs durch, in denen die Wahrnehmung geschärft werden soll, ob sich in einem Einsatzgebiet Indikatoren für einen bevorstehenden Völkermord zeigen. Trotzdem ergab sich auch hier eher die Tendenz, dass man sich in den Gedenkstätten mit der Geschichte auf möglichst konkreter Ebene beschäftigen sollte. Die Praxis zeigt, dass eine inhaltliche Überfrachtung die wohlmeinende Absicht schnell in die Knie zwingen kann.

Der erste Konferenz-Tag schloss mit einem Empfang durch die Beigeordnete für Kultur und Erinnerungswesen im Pariser Rathaus.

Der zweite Tag begann mit einer Exkursion nach Drancy, dem Ort an dem die Juden aus Frankreich (einschließlich der Flüchtlinge) zu Transporten nach Auschwitz gesammelt wurden. Vor Ort gibt es heute eine Denkmalensemble aus einer Skulptur, einer Wegstrecke Eisenbahnschienen und einem alten Güterwagen, der eine kleine Ausstellung enthält. Über das Gelände verteilt, gibt es mehrere Gedenktafeln, die aus verschiedenen Epochen stammen. Der Gebäudekomplex, der im Zustand des Rohbaus als Sammellager diente, ist derzeit von häufig wechselnden Mietern bewohnt. Er steht unter Denkmalschutz, bei Renovierungsarbeiten entdeckte Inschriften der internierten Juden wurden vor Ort nicht erhalten. Eine museale Präsentation wird ab dem nächsten Jahr in einen Neubau auf einem Gelände schräg gegenüber der "Cité de la Muette" eingerichtet. Die Entscheidung gegen den authentischen Ort war offenbar eine politische.

Am Nachmittag gab es einen weiteren wissenschaftlichen Vortrag. Der Historiker DENIS PESCHANSKI (Paris) referierte über die französischen Lager während des Zweiten Weltkrieges. Internierungslager für "gefährliche" oder "unerwünschte" Personen, einschließlich solcher aus dem Ausland, waren bereits 1938 eingerichtet worden. Nach dem Sieg Francos in Spanien wurden die spanischen Flüchtlinge in Frankreich interniert — unter primitivsten Bedingungen, da das Provisorium schnell wieder aufgelöst werden sollte. Nach 1939 wurden Flüchtlinge aus Deutschland und aus Österreich plus Kommunisten (nach dem Deutsch-Sowjetischen Abkommen von 1939) und andere "Staatsfeinde" festgesetzt. 1940 wurden die aus dem Südwesten Deutschlands und den annektierten Teilen Frankreichs ausgewiesenen Juden im Internierungslager Gurs zusammengepfercht, wenig später auf die anderen Lager (Noé, Le Vernet, Les Milles, Rivesaltes, Récébédou) verteilt. Die meisten, die diese Lager überlebten, starben 1942 in den deutschen Vernichtungslagern im Osten. Der Vichy-Regierung kam die bestehende Gesetzeslage zupass, entsprach sie doch durchaus der Mentalität einer nach traditionellen Werten organisierten französischen Nation (in einem nationalsozialistisch beherrschten Europa).

Im Anschluss wurden eine Reihe neuer Projekte vorgestellt: das "Musée de l’Holocaust et Droit de l’Homme" in Mechelen,2 das Museum in der alten Ziegelei von Les Milles3 und das Jüdische Museum in Warschau.4 Weitere französische Erinnerungsorte entstehen in Rivesaltes, in Chaumont und am Bahnhof von Bobigny.

Die letzten beiden Sitzungen beschäftigten sich mit den Themen Raubkunst und – an Hand eines Vortrages von PNINA ROSENBERG (Haifa) – mit Kunst in französischen Lagern.

Conference Overview:

Begrüßung durch den Vorsitzenden Vojtech Blodig, Julien Anfruns, Generalsekretär von ICOM und Hubert CAIN, Beirat des Mémorials de la Shoah.

Georges Bensoussan (Chefredakteur der Revue d’Histoire de la Shoah): Der Holocaust zwischen Geschichte und Erinnerung; Herausforderungen und Gefahren in der Bildungsarbeit.

Führung durch die Gedenkstätte

Podiumsgespräch
Menschenrechts- und Toleranzerziehung in Holocaust-Gedenkstätten: aktuelle Diskussionen mit Thomas Lutz (Topographie des Terrors), Olivier Lalieu (Mahnmale und externe Gedenkorte, Mémorial de la Shoah) und Mariella Chyrikins (Anne Frank Stiftung)

Leitung: Jan Munck (Direktor der Gedenkstätte Theresienstadt und Stellvertretender Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in Tschechien).

Podiumsgespräch
Wie umgehen mit anderen Völkermorden in Holocaust-Gedenkstätten? Teilnehmer und Themen:

Yves Ternon (Mémorial de la Shoah), Warum Völkermorde unterrichten? Gretchen Skidmore (United States Holocaust Memorial Museum), Wie soll man die Prävention von Völkermorden in Holocaust-Gedenkstätten einbeziehen? und Joël Kotek (Freie Universität Brüssel), Wie kann man die Konkurrenz der Erinnerungen in diesem Zusammenhang vermeiden?

Leitung: Jon Reitan (IC-Memo, Kurator der Gedenkstätte und des Menschenrechtszentrums Falstad)

Führung in Drancy

Denis Peschanski (Centre National de la Recherche Scientifique), Lager in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs

Podiumsgespräch
Neue Holocaust-Gedenkstätten, Projekte in Europa mit Adriens Ward (Leiter des Holocaust und Menschenrechts-Museum in Mechelen)

Alain Chouraqui (Vorsitzender der Stiftung Camps des Milles) und Barbara Kirshenblatt-Gimblett (Jüdisches Museum Warschau).

Leitung: Anne Grynberg, Professorin für Neuere Geschichte

Podiumsgespräch

Raubkunst und die Erinnerung an die Opfer von Verbrechen gegen die Menschheit mit Monique Constant, Archivleiterin des Französischen Außenministeriums), Karen Karen Franklin (Jüdisches Museum New York) und Gilbert Lupfer (Leiter des “Daphne”-Forschungsprojektes an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden)

Leitung : Norbert Haase (IC Memo Vorstandsmitglied, Mitarbeiter des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst).

Pnina Rosenberg (Kunstwissenschaftlerin Haifa): Die bildenden Künste in französischen Internierungslagern

Anmerkungen:
1 Das vollständige Programm der Tagung findet sich unter: http://falstadsenteret.no/ic_memo/IC_Memo_Paris_26-28_Oct_2011.pdf (08.11.2011).
2 Das Museum erinnert an die Deportationen von Juden und Roma aus Belgien. Es eröffnet 2012 in einem Neubau. Eine Internet-Präsentation gibt es bereits http://www.kazernedossin.be/en (08.11.2011).
3 In dem Internierungslager in der ehemaligen Ziegelei von Les Milles wurden besonders viele Künstler festgehalten. Der bekannteste dürfte Max Ernst gewesen sein. http://www.campdesmilles.org/content/view/1/7/lang,fra (09.11.2011).
4 Das Jüdische Museum in Warschau will die Jahrhunderte währende Geschichte des polnischen Judentums zeigen. Ein Endpunkt wurde 1945 gesetzt. Auch hier ist ein Internet-Angebot im Aufbau.


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Deutsch
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